
Originalsprache des Artikels: Deutsch
Herr Merki, Sie sind Geschäftsführer der Stiftung Educa Swiss, welche eine der wichtigsten privaten Akteure im Bereich der Bildungsförderung ist. Erzählen Sie uns doch, wie Ihr Werdegang aussieht und wie Sie zu dieser Position gekommen sind?Mit dem Wunsch in die Entwicklungszusammenarbeit einzusteigen, begann ich ein Studium in internationalen Beziehungen. Schnell merkte ich jedoch, dass mir das Vermittelte zu weit weg ist von der konkreten Situation eines jeden Individuums. Deshalb wechselte ich an die „Front“ und absolvierte mein Studium in Sozialer Arbeit an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Parallel dazu arbeitete ich vor allem mit jungen Erwachsenen. Dabei lernte ich sehr viel über die Bedeutung intrinsischer Motivation und die Bedürfnisse der Menschen. Fast täglich stellte ich mir die Frage: Was kann ich dazu beitragen, damit mein Gegenüber seine Situation selbst in die Hand nehmen und idealerweise verbessern kann. Der Ansatz von „Hilfe zur Selbsthilfe“ entspricht dabei meiner vollen Überzeugung.
Bevor ich bei EDUCA SWISS die Geschäftsführung übernehmen durfte, sammelte ich noch wichtige Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen und coachte andere Sozialarbeitende. Und so passte mein Profil dann tatsächlich ideal auf das bereits vorhandene Knowhow im Team und des operativ stark involvierten Stiftungsrats.
EDUCA SWISS hat sich als gemeinnützige Stiftung zum Ziel gesetzt, in der Schweiz allen motivierten Personen mit einem klaren Berufsziel und Bildungswunsch, aber nicht ausreichend finanziellen Mitteln, eine Chance zu geben. Konkret unterstützen wir Menschen bei der Umsetzung ihres Bildungsvorhabens – zum einen durch kostenlose Begleitung bei der Planung und Budgetierung ihres berufsbezogenen Bildungsprojektes, zum andern durch Vermittlung von zinsgünstigen Bildungsdarlehen. Dank dieser Kombination aus Coaching und Finanzierung erreichen unsere Geförderten eine signifikant höhere Studien-Abschlussquote als der Schweizer Durchschnitt. Statt total 74%, respektive bei Personen mit Migrationshintergrund 55%, schliessen bei uns mehr als 90% ihr Studium erfolgreich ab. Und dies, obwohl viele von den Geförderten Benachteiligungen mitbringen. Die Begleitung durch einen Coach hilft eben auch dann, wenn es in der Ausbildung mal nicht läuft wie geplant. Mit durchschnittlich benötigten CHF 15‘000 für die gesamte Ausbildung, ist auch das Darlehen nach dem Berufseinstieg innert nützlicher Frist wieder zurückbezahlt – und kann dann vom Darlehensgeber erneut eingesetzt werden.
Welche Rolle nehmen Stiftungen allgemein heute im Bildungssektor hinsichtlich Förderung von Bildung ein?Eine Statistik dazu habe ich leider nicht zur Hand, aber gemeinsame Aktionen wie der „Foundation For Future“ Fonds von SwissFoundations, bei der Studierenden während der Pandemie unkompliziert geholfen wurde, oder die vielen Stiftungen, die Auszubildende grosszügig unterstützen, deuten auf eine relevante Rolle und wichtige Ergänzung zu der staatlichen Bildungsfinanzierung hin. Zu EDUCA SWISS kommen dann oft diejenigen, die trotzdem nicht ausreichend Unterstützung bekommen können (z.B. wegen Migrationshintergrund, familiären Problemen, etc.). Und dass es auch in der Schweiz unerwartet viele motivierte Personen gibt, die sich keine Aus- oder Weiterbildung leisten können, zeigen unsere stetig wachsenden Anmeldezahlen.
Anfang Mai wurde eine Studie der Bildungsforscherin Margrit Stamm in den Medien zitiert, die besagt, dass die Chancenungleichheit zwischen Kindern aus Akademikerfamilien und Arbeiterkindern grösser geworden ist. Was muss Ihrer Meinung nach im Schweizer Bildungssektor geschehen, damit diese «Schere» nicht noch weiter aufgeht?Meiner Meinung nach ist es an der Zeit, dass wir Schülerinnen und Schüler ganzheitlicher fördern und ihre Leistung nicht mehr nur anhand von auswendig gelerntem Wissen und klassischen Fertigkeiten messen. In den Jobs der Zukunft wird Kreativität, Empathie und Teamfähigkeit benötigt, alles äusserst menschliche Eigenschaften – Rechnen kann die Maschine. Natürlich ist das sehr vereinfacht dargestellt, jedoch empfinde ich das Verständnis von – um beim Beispiel zu bleiben – Logik oder Teamdynamik, sehr viel wichtiger, als Logarithmen von Hand berechnen zu können. Die sogenannten „Softskills“ dürfen nicht nur ein Teil im Anhang sein, sondern werden im Arbeitsmarkt wahrscheinlich bald überlebenswichtig, weil viele „klassischen Kompetenzen“ digitalisiert und automatisiert werden. Ich stelle die These in den Raum, dass bei einer ganzheitlichen Förderung und Betrachtung die aktuell „bildungsfernen“ Kinder deutlich bessere Chancen haben werden. Das würde ich gerne mal mit Frau Stamm diskutieren.
Ein anderes Thema ist die Talentförderung. Es gibt in der Schweiz viele Institutionen, die sich für Chancengleichheit einsetzen. Im Vergleich jedoch wenige Organisationen, die sich beispielsweise für akademische Spitzentalente engagieren. Inwieweit arbeitet Educa Swiss mit solchen Talenten zusammen und ist die Schweizer Kultur in der Talentförderung nicht etwas «verhalten», wenn man es mit den Möglichkeiten im angelsächsischen Raum vergleicht?Quantitativ kann ich dazu keine verlässliche Aussage machen, jedoch nehmen wir dies auch so wahr, dass im angelsächsischen Raum die Talentförderung deutlich mehr im Zentrum steht. Aus meinen obigen Antworten dürfte jedoch klar sein, dass ich mich – offenbar ganz schweizerisch – viel mehr mit der Sicherstellung von „Chancen für alle“ begeistern lasse. Bei EDUCA SWISS sind alle willkommen, ob Überflieger oder Durchschnittsnoten. Uns geht es um Motivation, Verbindlichkeit und Professionalität. Noten einzelner Studiengänge können wir gar nicht korrekt einordnen, weil bei uns Gesuche aller Stufen und relevanten Bildungsstätten angenommen werden und wir die Kompetenz der Fähigkeitsbeurteilung bei diesen sehen.
In den skandinavischen Ländern wird viel in das Thema «lebenslanges Lernen» investiert. Konkret heisst das, man kann staatliche Ausbildungsgelder in jedem Alter kriegen. In der Schweiz fällt auf, dass viele Kantone Alterslimiten gesetzt haben. Mit Mitte 40 ist beispielsweise im Kanton Zürich Schluss. In Bern schon mit 35 (ausser in Ausnahmen). Was für Erfahrungen machen Sie bei Educa Swiss hinsichtlich Personen fortgeschrittenen Alters, die sich weiterbilden wollen und vom Staat gar keine Unterstützung erhalten?Die Wirtschaft braucht Personen, die „lebenslang lernen“. Oder beauftragen Sie für die Entwicklung Ihrer Webseite jemanden mit dem IT-Knowhow aus den 90er-Jahren? Dass der Staat dies kaum berücksichtigt, finde ich sehr bedauerlich. Hier braucht es neue Ansätze, wie zum Beispiel, dass alle Bewohnerinnen und Bewohner in der Schweiz ein gewisses Kontingent an Lernzuschüssen zur Verfügung haben, welches in Eigenverantwortung bis zur Pensionierung gebraucht werden kann. Stellen Sie sich vor, Sie bilden sich mit 60 zum Coach oder Autor weiter und können sich dann wahrscheinlich weit über das Pensionsalter mit Freude darin betätigen.
Bei EDUCA SWISS sind 12% der finanzierten Personen über 37 Jahre alt und damit oft nicht staatlich unterstützungsberechtigt. Solange ein Bildungsvorhaben in einer Gesamtbetrachtung und finanziell realistisch ist, steht einer Förderung bei EDUCA SWISS auch mit 50+ Jahren nichts im Weg. Diese Personen wissen dann meist sehr genau, was sie wollen und erreichen entsprechend auch ihr Ziel.
Educa Swiss konnte während der Pandemie sehr schnell Nothilfe-Darlehen und später auch «A-fonds-perdu-Beiträge» für Personen in Ausbildung bereitstellen. Erzählen Sie uns doch, wie Sie das so schnell schafften und wie diese Gelder konkret helfen konnten?Aus drei Gründen: 1. EDUCA SWISS ist als Stiftung privat finanziert, 2. sind wir täglich mit den Situationen von Studierenden konfrontiert und 3. konnten wir diese Bedrohung der Chancengerechtigkeit nicht einfach ignorieren. Deshalb eröffneten wir mit einem anfangs kleinen Betrag unsere Covid-19-Nothilfe. Der Ansturm von Studierenden, die ihre Nebenjobs verloren hatten, bestätigte uns in der Vermutung, dass die Regulierungen zur Einschränkung der Pandemie die Studierenden besonders hart treffen würde. Also gingen wir mit dieser Erfahrung sofort auf unsere Förderpartner zu und konnten schlussendlich sogar den Verband der Schweizer Förderstiftungen SwissFoundations für die gemeinsame Aktion gewinnen. Die beteiligten Stiftungen und einige Privatpersonen stellten über CHF 700’000 für betroffene Personen in Aus- oder Weiterbildung zur Verfügung. Damit konnten die Betroffenen offene Rechnungen begleichen und die Durststrecke überbrücken. Wichtig war uns, dass niemand auf Grund der Regulierungen seine oder ihre Ausbildung abbrechen musste. Wir sind stolz, dass wir so als noch kleine, spendenfinanzierte Organisation 169 Personen unterstützen konnten.
Zum Abschluss, Educa Swiss ist in den letzten Jahren stetig gewachsen und bekannter geworden. Welche Herausforderungen stehen noch an?Wir übersetzen aktuell unsere Plattform auf Französisch und Englisch, damit wir für weitere Teile der Schweiz und Personen mit Migrationshintergrund zugänglicher werden. Um diese Personen dann auch kompetent begleiten zu können, benötigen wir weitere motivierte Coaches. Unsere Coaches arbeiten im Ehrenamt, werden aber seriös eingeführt, ausgebildet und begleitet. Und obwohl unsere Coachs ehrenamtlich tätig sind, entstehen bei uns pro Coach jährlich Kosten von etwa CHF 5'000. Dafür suchen wir dringend Spender, die so die wertvolle Beratung der Studierenden ermöglichen. Und weil ein Teil der Gecoachten dann auch ein Bildungsdarlehen benötigt und die Nachfrage massiv steigt, müssen wir auch hier wachsen und freuen uns über Darlehensgebende, die so ganz direkt eine Chance geben.
Veröffentlicht unter Interview, Stiftungen Schweiz